Es ist einer von diesen Wintermorgen, die ich hasse. Der Kakao ist alle. Das Kind macht ein Drama draus, will anschließend keine dicke Jacke anziehen und die warmen Schuhe auch nicht. Schließlich hat man doch das Kind am Start. Dann lässt sich kein Schirm finden, nicht in der Garderobe, nicht auf dem Sofa, nicht auf dem Tisch, nirgendwo. Also ohne los. Das Kind will die Treppe nicht runtergehen, man klemmt es unter den Arm, dazu die eigene Tasche, den Kinderrucksack, das Mittagessen fürs Büro, vier Treppen runter ohne Fahrstuhl, bloß den Bus jetzt nicht noch verpassen.

Auf dem Weg zur Grundschule setzt Schneeregen ein, natürlich nicht nur ein bisschen, sondern gleich so, dass man fast nichts mehr sieht. Das Kind ist mit seiner imprägnierten dicken Jacke ausgerüstet für die Nordpolexpedition. Ich selbst bin nur im Wollmantel und ohne Schirm und Mütze unterwegs und philosophiere über die Frage, warum es an solchen Morgen grundsätzlich schneeregnet, wenn man ohne Mütze ist und beginne nicht nur manteltechnisch, sondern auch nervlich langsam aufzuweichen.

Das Kind ist endlich abgeliefert. Ich bin in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, als ich feststelle, dass mein Mittagessen langsam aus meiner Tasche auf meine Hose suppt. Hackfleischsoße, sehr lecker, nur nicht unbedingt auf meinem rechten Knie. Ich springe auf, fahrig an mir herumwischend. Die U-Bahn bremst in Kudamm-Nähe und ich lande Flüche und Entschuldigungen murmelnd auf einem sehr trendigen jungen Mädchen, das mir gegenüber sitzt.

Die schlanke Schöne schaut nicht auf, zuckt nicht mal mit der Wimper. Sie ist ganz vertieft in ihre Lektüre. Sie trägt eine kurze knallrote Blouson- Lederjacke, dazu passende rote, sehr angesagte Winterstiefel, darin endlos lange Beine, die in sehr hippen Jeans stecken, neben ihr eine rote Lacktasche.

Ich bin neugierig: Welche Lektüre ist für die Beauty so fesselnd, dass sie nicht mal aufschaut, wenn jemand mit Hackfleischsauce auf sie drauf fällt. Ein zerlesenes Bändchen hält sie in Händen und ich entziffere den Buchrücken: „Homer – Ilias“.

Die junge Frau, die an einem matschigen Wintermorgen so aussieht, als wäre sie gerade unterwegs in einen der heißesten Clubs der Stadt, liest einen Klassiker.

Auf einmal vergesse ich alles um mich herum. Wie alt war ich, als ich von Odysseus Heldentaten las, 16 oder 17 Jahre? Ich weiß noch, wie ich damals dachte, die Penelope hat doch einen Sockenschuss. Sitzt sie da blödsinnig jahrelang alleine treu und brav zu Hause rum, während ihr Odysseus die spannendsten Abenteuer erlebt, muss nicht ganz bei Trost sein, die Gute.

Ich sitze in der U-Bahn mit Sauce am Knie und ertappe mich, wie ich in mich hineinschmunzle. Und plötzlich ist der Himmel hell und es ist überhaupt keiner von diesen vermaledeiten Wintermorgen mehr.

Top10 Berlin Ideen für Freizeitaktivitäten im Winter findet Ihr hier:

Top10 Winterliche Freizeitaktivitäten
Top10 Winterferien Aktivitäten für Kinder
Top10 Indoor Aktivitäten für Kinder